Das große Hindernis.

Novellette von Ralph v. Rawitz
in: „Stralsundische Zeitung, Sonntagsbeilage” vom 05.06.1904


Der Oberst Freiherr Specht von Pappelsdorf, Kommandeur der Burkeroder gelben Ulanen, war nicht nur im Dienst ein sehr genauer Herr, der es höchst krumm nahm, wenn seine Eskadronchefs eine halbe Minute zu spät ihre Meldung abstatteten, sondern er hielt auch in seinem Hause auf Pünktlichkeit. Schlag 7 Uhr, Winter wie Sommer, mußte alles aus den Federn sein, Punkto 2 Uhr mußte die Suppe auf dem Tisch dampfen, und wenn der Trompeter die Retraite blies, dann sah er gern seine Angehörigen zur Ruhe gehen.

Es war mithin kein Wunder, daß er heute in gelinde Aufregung geriet, als die große Standuhr im Speisezimmer bereits fünf Minuten nach zwei wies, ohne daß Ernestine, seine Jüngste, sichtbar geworden wäre.

„Hast Du eine Ahnung, wo die Tine wieder steckt?” fragte er seine Gattin, die zwar minder bervös in Hinsicht pünktlicher Mahlzeit war, aber doch einige Besorgnisse über das Ausbleiben der Tochter nicht verhehlen konnte. Was mochte sie wieder ausgeheckt haben? Was konnte ihr nicht alles geschehen sein!

„Ich weiß nicht, Papa — frage doch mal den Christoph.”

Der Oberst drückte an dem elektrischen Klingelknopf und gleich darauf erschien der Bursche, dem der Oberst dieselbe Frage vorlegte.

„Das gnädige Fräulein sind noch im Springgarten; sie reiten heute den Fuchs.”

„Na ja! Machen Sie, daß Sie hinkommen, Christoph — es wäre Essenszeit”

„Befehlen, Herr Oberst.”

Der Bursche verschwand, und Herr v. Pappelsdorf schüttelte traurig den Kopf: „Wird das Jöhr denn nie vernünftig werden?!” Das war ja keine Neuheit, daß Ernstine sich wie der wildeste Junge geberdete und ihrem Spitznamen im Regiment „Ernstchen” alle Ehre machte. Schon mit acht Jahren war sie auf alle Gäule geklettert und kaum aus dem Stall fortzubringen gewesen. Aber zu einer beängstigenden Höhe hatte sich diese Manier doch erst in den reiferen Backfischjahren gesteigert. Fast kein Tag verging, wo der Papa — damals noch junger Kommandeur und Major — sich nicht über eine Escapade ärgern mußte, zu der ganz Burkerode erstaunte Augen machte. Und zwar die älteren Damen und die häßlichen ausgewachsenen Fräulein Töchter in höchster sittlicher Entrüstung, für die es eigentlich nur ein treffendes Wort gibt, das „Shocking” unserer moralischen Vettern jenseits des Kanals, die Herren Leutnants aber voller Enthusiasmus, weil sie den „süßen Bengel” gar zu niedlich fanden.

Damals hatte sich auch die klassische Szene abgespielt, die unvergeßlich in den Annalen des Ulanen-Regiments und der ganzen Division fortlebte. Der damalige Divisionskommandeur, ein älterer Herr, der das Pferd auch nur als Transportmittel betrachtete — er war aus der Infanterie hervorgegangen — und dem Hindernisse ein Greuel waren, — pflegte bei den Burkeroder Besichtigungen einen dicken, etwas phlegmatischen Falben, das Trompeterpferd der 5.Eskadron, zu reiten. Auf diesem edlen Gaul riskierte er höchstens ein Galöppchen, aber nie den kleinsten Sprung, wobei er stets das „temperamentlose, schlecht eingesprungene Pferd” vorschützte, dem man „keine Hürde zutrauen&rdquo, könne. Als er eines Nachmittags bei der Schlußkritik, die stante pede auf dem Reitplatz stattfand, diese und ähnliche Bemerkungen zum besten gab, wobei das gesamte Offizierkorps, den Säbel angefaßt, Nacken an der Binde, ehrfurchtsvoll zuhörte, da geschah es, daß eine Reiterin im nahe gelegenen Springgarten auftauchte, die zu allgemeiner Genugtuung der Ulanen und zu einiger Verschnupfung Sr. Exzellenz den dicken Falben flott über alle Hindernisse brachte. Das Pferd war garnicht zu verkennen, auf tausend Schritte wußte man schon: „Der Exzellenzengaul”. Und der Racker sprang wie ein Gummiball, Koppelrick, Mauer, irischen Wall und Graben, ohne auch nur einmal zu stutzen. Exzellenz machten darauf „Ehem”, was die leichtsinnigen Leutnants so übersetzten: „Wenn das Frauenzimmer sich doch das Genick bräche”; Ernestine tat dem hohen Vorgesetzten jedoch diesen Gefallen nicht und verduftete, nachdem sie noch einen Grenzgraben von 12 Fuß mit Verve traversiert hatte. — Nach dieser Besichtigung ward der Herr General nie mehr gesehen; Ernstchen Pappelsdorf aber bekam in der ganzen Division den Beinamen „Exzellenzenstürzer”.

Die Leutnants hatten damals gut lachen; sie genossen nur den Vorteil, daß der unbeliebte Divisionär den bunten Rock auszog. Für Papa Pappelsdorf war der Fall sehr peinlich, und er tat sein möglichstes, um ähnlichen Vorkommnissen in Zukunft vorzubeugen. Nach einer häuslichen Szene wurde das dreiste Mädel in ein Pensionat nach Lausanne geschickt, um sich die frechen Jungensmanieren abzugewöhnen. Tränenden Auges nahm sie von allen Eskadronsgäulen Abschied, — es war höchst rührend. Zwei Jahre Schweiz taten dann Wunder, und die Burkeroder trauten kaum ihren Augen, als die Baroneß wieder auf der Bildfläche erschien. Sie trug wahrhaftig lange Kleider, frisierte sich einigermaßen menschlich, rauchte keine Zigaretten mehr und konnte sogar etwas nähen und kochen. Aber in einem Punkte war sie doch die Alte geblieben, und die Ulanen konnten ihr deshalb auch nicht aufrichtig gram sein; sie hatte noch immer die Pferdepassion. Es war noch kein Monat seit ihrer Rückkehr von Lausanne ins Land gegangen, da hatte sie schon wieder alle Regimentsgäule durchgeprobt und bei den Schnitzeljagden im Herbst holte sie sich zweimal den ersten Preis.

Während der Oberst diesen Erinnerungen nachsann und seine Gattin die Suppe auftat, erschien Ernestine: eine mittelgroße elastische Erscheinung, das dunkle Haar in einem einfachen Knoten aufgesteckt, mit großen schönen grauen Augen und einer kecken Nase. Sie gab sich gar nicht unweiblich, im Gegenteil lag etwas von Scheu und rührender Mädchenhaftigkeit in ihrem Wesen, die den Zorn des Papa bald besänftigte. Er begnügte sich daher mit dem Hinweis:

„Wir essen gewöhnlich um zwei! Deine Uhr geht wohl nicht richtig?” — —

Ernstchen entgegnete nichts und verhielt sich auch während des ganzen Mittagessens überaus schweigsam; desto mehr plauderte Adda, ihre ältere Schwester, die alle möglichen Pläne entwarf, wohin man in diesem Sommer reisen könne.

„Aber Kind, das hat doch nur gut Zeit und Weile,” bemerkte Mama, „daran denkt man im Mai, aber nicht jetzt Ausgang des Winters,”

„Ja, Mama — was soll man aber in dieser trostlosen Uebergangszeit anfangen? Die Bälle sind vorüber, die Sommerfreuden haben noch nicht begonnen — —”

„Da muß man sich eben nützlich beschäftigen, Adda. Muß denn fortwährend nur Amüsement sein? Und daran fehlt es schließlich doch auch nicht. Die Wandertruppe des Direktors Grünbaum, die unser Städtchen für einige Wochen zum Standquartier erkoren hat, soll nicht übel sein.”

„Was spielt man denn heute abend?”

Ernestine reichte mit seltener Bereitwilligkeit die Zeitung aus der Mappe herüber, und da stand es in fetten Buchstaben: „Benefiz für Frl. Amanda Wegebraun: Zum ersten Male in gänzlich neuer Ausstattung: „Der verwunschene Prinz”. Repertoirestück des Königl. Schauspielhauses in Berlin. Erster Platz 1,50, zweiter Platz 1,00, Loge 2,00, Tribüne 0,50. Wozu ergebenst einladet — Anton Grünbaum, Direktor und Hofschauspieler a.D. —

„Ein uraltes Stück,” sagte der Oberst, „ich erinnere mich, es in Berlin vor 12 oder 15 Jahren gesehen zu haben. Vollmar war glänzend drin, — na, er ist immer erstklassig. Wenn Ihr gehen wollt —?”

„Ich nicht, Papa,” erwiderte Frau von Pappelsdorf, „ich habe zu viel in der Wirtschaft zu tun, aber die Mädchen können es sich ja ansehen. Christoph bringt sie bis zum „Hotel Stadt Hamburg” und holt sie wieder ab; die Entfernungen in unserem guten Burkerode sind ja keine beträchtlichen.”

Adda klatschte vor Vergnügen in die Hände, Ernestine dagegen nahm den Entscheid ziemlich kühl hin; innerlich sann sie sogar darüber nach, wie sie das Vorhaben zum Scheitern bringen könnte. Denn etwas ganz Anderes hatte sie für heute abend in Aussicht genommen. Sie wußte, daß Rittmeister von Eckarstätt immer an diesem Wochenabend seine Whistpartie hatte, zu der einige Herren erschienen: Der Major vom Stabe, Rittmeister Werth und Bodo Hollst — ja, er hieß Bodo, das wußte sie —. Ganz zufällig wollte sie gegen 7 Uhr bei Frau v. Eckarstätt vorsprechen, vielleicht auch zum Abendbrot dableiben, und ein wenig plaudern. Wenn er ihre Stimme hörte, würde er sich schon im Salon einfinden und die Anderen ihr Whist mit einem Strohmann weiterspielen lassen. Sie hatte sich schon seit acht Tagen auf diese Stunden gefreut, die so interessant werden mußten. Denn er verstand es brillant, über die edle Reitkunst zu plaudern, war er doch auch bei weitem der beste Reiter im ganzen Regiment, der sich sogar den Kaiserpreis erritten hatte. Ja, die equestrische Wissenschaft, das war es, was sie zu ihm zog. Oder nicht? Sie biß die Zähne zusammen, als ein bescheidener Zweifel in der eigenen Seele auftauchte und sagte sich: „Unsinn! Was soll es sonst sein! Nichts als das!”

Ernestine war sehr erfindungsreich, aber heute versagte ihre Phantasie völlig; sie fand keinen passenden Einwand gegen das Theater und konnte, nachdem Christoph zwei Logenkarten geholt hatte, auch nicht mehr gut „Nein” sagen. So gingen die jungen Damen denn gegen 7 Uhr abends nach dem Hotel, in dessen großem Theatersaal die Truppe mimte, die eine höchst vergnügt, die andere kratzbürstig und noch immer in dem Gedanken, einen Akt zu überschlagen und währenddessen zu Eckarstätts herüberzuflitzen.

Allein in der „Stadt Hamburg” wartete Ernestinens eine angenehme Ueberraschung. Rittmeister Werth hatte aus dienstlichen Gründen seine Teilnahme an der Whistpartie in letzter Minute abgesagt, und daher waren Eckarstätts mit ihren Gästen gleichfalls ins Theater gekommen, wo sie in der Offiziersloge Platz genommen hatten. Adda setzte sich sofort zu Frau von Eckarstätt, mit der sie eng befreundet war, Herr von Eckarstätt und der Major vertieften sich nach der ersten Begrüßung in ein Dienstgespräch und wandten dann ihre Aufmerksamkeit der hübschen Vorstellung zu; so konnte Ernestine denn ungestört mit Baron Hollst plaudern und nach wenigen Minuten waren sie denn auch schon mitten in ihrem Lieblingsthema drin.

Sie war mit Feuer und Flamme bei der Sache, aber er? — Es kam ihr so vor, als ob er auf ein anderes Ziel hinsteuere. Wiederholte Male ertappte sie ihn auf Gedächtnisfehlern und Irrtümern.

„Aber was haben Sie, Baron, Sie sind heute so zerstreut?”

„Bin ich das —?

„Ja — ja! Ihnen geht etwas anderes im Kopfe herum!”

„Vielleicht! — Und wenn es so wäre?”

„Sehr wenig liebenswürdig gegen mich.”

„Das täte mir leid, aber bin ich Schuld daran?”

„Wer denn sonst? Oder etwa ich?”

Sie hatte es gedankenlos hingesagt, aber dann wurde sie sich über ihre Aeußerung klar und die helle Röte schoß ihr ins Gesicht.

„Pfui, Baron. Sie verleiten mich dazu Dummheiten zu sprechen.”

„ich glaube, daß Sie niemals etwas Zutreffenderes gesagt haben!”

„Aber Baron! Ich dachte, Sie wären zu klug, um Komplimente zu machen — bitte, wie war es? Der Stachauer Graben ist Kinderspiel — wollen wir morgen?”

„Ich bitte Sie, Gnädigste, — die Gäule sind das Gelände entwöhnt, wir sind im Frühjahr — und der Graben hat seine 15 Fuß!”

„Also mache ichs allein.”

„Gott bewahre! —Wenn es durchaus sein soll — wann?”

„Nachmittags, vielleicht um ½4 Uhr? Ich meinen Fuchs und Sie den großen Braunen.”

„Also ja — aber es ist eine Torheit!” Und lächelnd fügte er hinzu: „Immer noch Ernstchen.”

„Selbstverständlich, und der bleibe ich, bis — —”

„Bis —?”

„Bis ich Ernestine werde.”

„Und was wird dieser Wechsel bewirken?”

Sie tat, als ob sie nichts hörte und setzte sich zu Adda und Elise Eckarstätt; aber die Vorstellung ging eindruckslos an ihr vorüber und nachher zu Hause wußte sie kein Wort vom Inhalt des Lustspiels.

— — Am nächsten Nachmittag trabten Baron Hollst und Ernestine bei schönem Wetter querfeldein in der Richtung auf Dorf Stachau, wo der viel berühmte Graben sich befand. Unterwegs wurden einige Zäune und Gräben genommen, um die Gäule für die Hauptleistung des Tages einzuspringen. Endlich war die Stelle erreicht und der gesuchte präsentierte sich als ein achtunggebietender Geländeeinschnitt mit steilen Rändern und sandigem Uferplanum.

„Der Frühlingsregen und die Schneeschmelze haben ihn noch vergrößert,” sagte Ernestine. „Aber was tun? Schlimmsten Falles plumpst man hinein. Dann ziehen Sie mich 'raus und kriegen noch die Rettungsmedaille, Baron.”

Sie ritt eine Volte, um den Anlauf zu gewinnen, aber sofort war Hollst an ihrer Seite.

„Sie werden nicht springen! Es wäre ein Wahnsinn! Glauben Sie mir, ich habe die Hannoverschen Jagden geritten, und die sind gepfeffert; aber ein solcher Graben war nicht dabei. Die Breite ist das Wenigste, aber wo soll der Gaul absetzen, wo landen? Das ist doch alles weicher Morast!”

„Gut — springen Sie nicht, Baron, ich habs proponiert, und ich tue's, ob's auch Hals und Kragen gilt.”

Wieder wollte sie angaloppieren, aber jetzt fiel er ihr in den Zügel. „Sie springen nicht!”

„Was soll mich hindern?”

„Der Gedanke an die Ihrigen! Wenn Sie zu Schaden kämen!”

„Bah — Unkraut vergeht nicht — und wenn selbst — Adda ist ja noch da.”

„Und was habe ich dann noch, — Ernestine?”

Er ritt dicht an sie heran und faßte ihre Hand, die den Zügel los ließ. Da wurde ihr plötzlich so seltsam zu Mut, so weich und sehnsüchtig, so ganz unreiterisch. Und ganz leise sagte sie: „Wenn Du es nicht willst, Bodo — —!”

Da lachte er und küßte die liebe Hand: „Endlich — endlich! Und nun, mein teures Herzblatt, kann ich ja die Wahrheit sagen: D a s  B ä c h l e i n ist ein Kinderspiel für unsere Gäule und das g r o ß e  H i n d e r n i s  haben wir schon genommen.”

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